Zwölf-Schritte-Programm

AA-Gruppen treffen sich häufig und regelmäßig (Davison et al., 2007). Neue Mitglieder bekennen, dass sie Alkoholiker sind, ältere „trockene“ Mitglieder erzählen die Geschichte ihrer Alkoholabhängigkeit und berichten von ihrem nunmehr besseren Leben. Jedes AA-Mitglied wird davon überzeugt, dass Alkoholismus unheilbar und ständige Wachsamkeit notwendig sei, um nicht wieder dem unkontrollierten Trinken zu verfallen. Die Gruppe bietet emotionale Unterstützung, Verständnis, Rat und Geselligkeit.

Wie in den zwölf Schritten zu erkennen, wird dem spirituellen Aspekt große Bedeutung beigemessen: Abhängige greifen oft zu Drogen, um eine emotionale oder spirituelle Leere zu füllen (Lüttich, 2008). In materiellen Dingen oder Substanzen ließe sich jedoch keine tiefe Erfüllung innerer Sehnsüchte finden. Zur Befreiung aus der Abhängigkeit sollen sich die Teilnehmer der AA-Programme daher der Liebe und Führung einer höheren Macht anvertrauen. Es wird offengelassen wer oder was unter dieser höheren Macht zu verstehen ist (Schritt 3), sodass die Teilnehmer selbst entscheiden können, welcher spirituellen Praxis sie folgen möchten. Empirische Ergebnisse zur Konzeptualisierung der „höheren Macht“ zeigen, dass diese sehr individuell interpretiert und erlebt wird (Murken, 2008).

Die AA berufen sich auf C. G. Jung als Mentor ihres spirituellen Programms (Quekelberghe, 2007). Jung hatte 1931 einen Freund des späteren AA-Gründers Bill Wilson behandelt und nach etlichen vergeblichen Versuchen aufgegeben. Nur eine tiefe geistige Erfahrung könne ihn vom Alkohol befreien. Jahre später, in einem Briefwechsel mit Bill Wilson verkürzte Jung seinen Therapievorschlag auf die Formel: „spiritus contra spiritum“ – spiritueller Geist gegen Weingeist (vgl. Anhang B). Nicht selten erfahren Menschen (so auch der Gründer der AA), die in der chronischen Phase der Abhängigkeit einen Tiefpunkt erreicht haben und völlig verzweifelt eine höhere Macht um Hilfe bitten, unerwartet eine neue spirituelle Bewusstheit (Murken, 2008). Auf dieser spirituellen Basis könne der Süchtige – nachdem er seine Abhängigkeit akzeptiert hat – die praktischen, für eine echte Wandlung notwendigen Veränderungen in seinem Leben vornehmen (Chopra, 2005).

Bemerkenswert an diesem Ansatz ist, dass nur der erste der zwölf Schritte den Begriff Alkohol erwähnt. Dies würde laut Chopra (2005, S. 71) zu der Erkenntnis verhelfen, dass es bei Alkoholabhängigkeit nicht nur darum ginge, was im Glas ist, sondern auch um das, „was sich im Kopf und im Herzen“ abspiele. Zudem bestehe dadurch die Möglichkeit, Trinken nicht nur als „Heimsuchung“ sondern auch als Chance zu verstehen – als erste Sprosse auf einer Leiter der Selbstverwirklichung, die zu echter spiritueller Erfüllung führen könne. Auch Lüttich (2008) betrachtet die zwölf Schritte der AA nicht lediglich als ein Programm zur Suchtüberwindung. Den Vorteil dieses Ansatzes sieht er darin, dass es Achtsamkeitsbasierte Ansätze in der Psychotherapie von Abhängigkeitsstörungen dem Einzelnen überlassen wird, auf welche Weise er mit der praktischen Umsetzung beginnen möchte. Ein Nachteil sei es jedoch, dass Hilfesuchende keine konkreten „Werkzeuge“ erhalten. Auch wird das AA-Programm oft wegen der übermäßigen Betonung der „gelernten Hilflosigkeit“ sowie der niedrigen Selbsteinschätzung in Bezug auf Gott kritisiert (Quekelberghe, 2007). Während der Alkoholiker auf dem schmalen Grat zwischen dem „bösen Alkohol“ auf der einen Seite und der „rettenden Gnade einer höheren spirituellen Macht“ auf der anderen wandle, finde das eigentliche innere Wesen des Abhängigen laut Chopra (2005, S. 71) keine Beachtung. Hsu et al. (2008) weisen in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass die sich einzugestehende „Machtlosigkeit“ von jedem unterschiedlich empfunden werden kann: Einerseits impliziert sie möglicherweise ein Gefühl der Unfähigkeit, (süchtige) Verhaltensweisen und Gedanken ändern zu können, andererseits muss Machtlosigkeit nicht unbedingt mit Hilflosigkeit einhergehen: Abhängige sind vielleicht machtlos gegenüber der Wirkung des Alkohols und der damit verbundenen negativen Konsequenzen, aber die Macht, eigene Denk- und Verhaltensweisen zu ändern, kann dennoch bei ihnen liegen. Demonstrieren Abhängige nicht bereits eine gewisse Macht, indem sie sich (freiwillig) entscheiden einer AA-Gruppe beizutreten und die Verantwortung für ihre Genesung zu übernehmen?

Aus Gmerek: Achtsamkeitsbasierte Ansätze in der Psychotherapie von Abhängigkeitsstörungen. 2009, S 39-40

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