Anwendungen

Anwendungsfelder der Achtsamkeit

Wenn man im Standardwerk zu den klinischen Anwendungen der Achtsamkeit – dem „Clinical Handbook of Mindfulness“ (Didonna 2009) – nachschlägt, finden sich elf Störungsbilder, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Angst– und Zwangsstörungen, Depression, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Ess-Störungen und anderen Suchterkrankungen, Traumafolgestörungen, ADHS, Psychosen, chronischem Schmerz und onkologischen Erkrankungen.

Darüber hinaus finden sich Anwendungen von Achtsamkeit bei ADHS, bei Tinnitus, bei HIV-Infektionen, bei Sexualstörungen und der Paartherapie, bei Psychosen, in Gynäkologie und Geburtshilfe und bei werdenden Eltern,  bei alternden Menschen, bei Infertilität, bei unterschiedlichen neurologischen und anderen körperlichen Erkrankungen wie ME/CFS, bei Schlafstörungen, beim älter werden, in der Palliativmedizin und grundsätzlich in der ärztlichen Praxis.

Ein wesentliches Anwendungsgebiet bezieht sich auf die Zielgruppe der Menschen, die in helfenden Berufen tätig sind, etwa im Gesundheitsbereich Pflegepersonen, ärztliches Personal oder Psychotherapeut_innen oder Sozialarbeiter_innen und Berater_innen.

Die Anwendung der Achtsamkeit in der Psychotherapie legt ein störungsübergreifendes Denken und Vorgehen nahe, das sich an den Prinzipien der Salutogenese, der Gesundheitsförderung und der Stärkung von Resilienz orientiert. In diesen Beeich fällt auch die Verknüpfung von positiver Psychologie mit Achtsamkeitspraxis, etwa mit der Förderung von kulturübergreifenden Tugenden und Charakterstärken (Niemiec 2013) beispielsweise im Programm der Mindfulness-Based Strength Practice (MBSP, Niemiec 2023)

Die Anwendungsgebiete achtsamkeitsbasierter Verfahren erweitern sich stetig. Dies wird unter anderem im Mindfulness Research Monthly deutlich, der in einem monatlich erscheinenden, mehrseitigen Newsletter aktuelle Publikationen zum Thema Achtsamkeit auflistet. Diese Ausweitung ist einerseits darauf zurückzuführen, dass achtsamkeitsbasierte Verfahren störungsübergreifende Wirkprinzipien nutzen, andererseits werden – einem allgemeinen Trend in der Psychotherapie folgend – bewährte Programme störungsspezifisch modifiziert.

Die große Zahl an Studien wird auch in der Metaanalyse von Bassam Khoury und seiner Arbeitsgruppe (2013) sichtbar. Sie schließt 209 Studien mit über 12.000 Personen ein und kommt zu dem Ergebnis, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen bei einer Vielzahl von psychologischen Störungen effektiv einsetzbar seien, insbesondere bei Angst, Depression und Stress.

In “Hypnose und Achtsamkeit” (Harrer 2018) finden sich Kapitel zu folgenden Themen:  Stressbewältigung und Prophylaxe von Burnout: “De-Hypnose, neue Muster bahnen und innehalten”; Depression: “Wahrnehmen und Sein statt Gedankenwandern”; Emotionsregulation; Traumafolgen: “Aufwachen im Hier und Jetzt”; Angst: “Sicher im inneren Hafen des Gewahrseins”; Schmerz: “Den Schmerz und die Beziehung zum Schmerz verändern”; Sucht: “Auf den Wellen des Verlangens surfen”; Schlafstörungen: “Aufwachen, beobachten, sein lassen und akzeptieren”; Onkologische Erkrankungen: “Kontrolle übernehmen und in der Gegenwart leben”.

In “Wirkfaktoren der Achtsamkeit ” (Weiss & Harrer 2016) werden sechs Störungsbilder ausführlicher dargestellt: Die Behandlung von Depressionen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, weil für sie umfassende Erfahrungen mit den Programmen der MBCT und der DBT zur Verfügung stehen; die Behandlung von Angst und Schmerz beispielhaft für alles was Menschen ablehnen und zu bekämpfen versuchen; das Phänomen Sucht zur Erläuterung eines achtsamen Umgangs mit allem an dem sie festhängen. Und schließlich wird der Umgang mit psychotischen Störungen erläutert, weil es in diesem Bereich die größten Bedenken gibt, dass Achtsamkeit schaden könne und daher kontraindiziert sei. Zum Abschluss bekommen noch gesundheitsfördernde Aspekte der Achtsamkeit einen größeren Raum, sie führen über das Ziel der Verringerung von Leiden hinaus und unterstützen die Entfaltung menschlicher Potentiale.

Das Heft von Organisationsberatung, Supervision, Coaching vom März 2020 widmet sich den Themen Aufblühen, Gedeihen, Selbstführung und Achtsamkeit im Coaching. Annette Gebauer (2017) weist auf individuelle und kollektive Achtsamkeit als zwei Seiten einer Medaille im Arbeitsumfeld hin.

Achtsamkeit bei Tinnitus

Achtsamkeit bei Tinnitus

Tinnitus zeigt viele Parallelen zu Schmerzen, bei denen Achtsamkeit, z.B. in Form des MBSR-Programms nachweisbar hilft.

  • Tinnitus ist – unabhängig von seiner Ursache – ein unwillkürliches, nicht kontrollierbares Symptom,
  • er zieht die Aufmerksamkeit auf sich, wird als störend und einschränkend erlebt,
  • er löst unheilsame Gedankenketten aus wie “das wird nie aufhören”,
  • er verursacht Leiden auch indem der Kampf gegen ihn in vielen Fällen erfolglos scheint.

Wie bei Schmerz bringt allein schon eine Änderung der Haltung gegenüber dem Symptom im Sinne der Achtsamkeit deutliche Linderung.

Zur Anwendung von Achtsamkeit bei Tinnitus sollen die Arbeiten zweier Arbeitsgruppen erwähnt werden. Eine Gruppe um Jenifer Gans (2013) modifizierte in Kalifornien das MBSR-Programm und entwickelte die Mindfulness Based Tinnitus Stress Reduction (MBTSR), die andere um Hugo Hesser in Schweden setzt die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ein. Im MBTSR-Programm wurden die Teilnehmer ausdrücklich dazu ermutigt, das Ziel loszulassen, den Tinnitus zu reduzieren. Das Ziel war vielmehr das Verhältnis zum Tinnitus zu verändern, der Kampf gegen das Ohrgeräusch sollte von einer akzeptierenden Haltung abgelöst werden. Dieses Ziel wurde erreicht, negative Folgen nahmen signifikant ab. Eine wesentliche Übung bestand darin, sich dem Geräusch mit zärtlicher Neugier zuzuwenden, anstatt auf die gewohnte Weise. Ein Teilnehmer beschreibt, dass ihm der Kurs eine Panikattacke erspart hätte. Aufgrund eines Stromausfalls war der Tongenerator ausgefallen, der ihn normalerweise zum Einschlafen mit weißem Rauschen versorgte. Vor dem Kurs hätte ihn die äußere Stille in Panik versetzt.

Zu den Wirkmechanismen ist die Studie von Hesser (2009) aufschlussreich. In Videoaufzeichnungen der Sitzungen wurden jene Aussagen gezählt, die auf kognitive Defusion und Akzeptanz hinwiesen. Die Zahl dieser Aussagen der Klienten in der zweiten Stunde waren Prädiktoren für die Symptomverbesserung nach 6 Monaten. Jenifer Gans hebt einen potentiellen Mechanismus besonders hervor: den Austausch in der Gruppe über ein gemeinsames Problem und die gegenseitige Unterstützung.

Link

  • Praxis für integrative und achtsamkeitsbasierte HNO [Piahno]

Literatur

  • Gans, JJ (2010) Mindfulness-Based Tinnitus Therapy is an Approach with ancient Roots. [pdf-download]
  • In einer Pilotstudie nahmen acht Patienten mit chronischem Tinnitus an einem achtwöchigen MBTSR-Programm (Mindfulness Based Tinnitus Stress Reduction) teil. In der quantitativen und qualitativen Erhebung nach dem Programm erzählten die Teilnehmer davon, dass der Tinnitus nicht mehr so schrecklich sei, dass es möglich sei, ihn wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten und dass er jetzt einfach da sein dürfe. Depression und Angst nahmen ab und die Wahrnehmung des Körpers veränderte sich. Dieser bedürfe der Fürsorge und Liebe. In: Gans, JJ, Sullivan PO & Bircheff V (2013) Mindfulness Based Tinnitus Stress Reduction Pilot Study. A Symptom Perception-Shift Program [CrossRef] [pdf-download]
  • Jenifer Gans auf Video [Video bei Vimeo]
  • Jenifer Gans MBTR [Video auf Youtube]
  • Hesser, H (2013) Tinnitus in Context. A Contemporary Contextual Behavioral Approach. [pdf-download]
  • Philippot, P et al (2011) A Randomized Controlled Trial of Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Treating Tinnitus. [CrossRef]
  • Hesser, H et al (2009)  Clients’ in-session acceptance and cognitive defusion behaviors in acceptance-based treatment of tinnitus distress. [CrossRef] [pdf-download]
  • Praxis für integrative und achtsamkeitsbasierte HNO [Forschungsergebnisse]
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